Erklärung zur Reform des Unterhaltsrechts für Trennungsfamilien
Vorgabe aus dem Bundesjustizministerium (BMJ)
Am 25. August 2023 kündigte Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann eine Reform des aus dem 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden Unterhaltsrechts an, benannte zahlreiche Probleme der bisherigen Rechtsnormen und formulierte Anforderungen an ein modernes Recht in einer gleichberechtigten Gesellschaft.
Mit Bedauern mussten die unterzeichnenden Verbände feststellen, dass in dem vor-gestellten Eckpunktepapier des Ministeriums wenig von diesen Zielen erkennbar ist. Das Ministerium hält weiter an tradierten Familien- und Rollenbildern fest und konterkariert seinen Ansatz durch minimale Entlastungen für mitbetreuende Eltern durch massive Erhöhungen an anderen Stellen.
Besonders auffällig sind dabei die beiden Anlagen des Eckpunktepapiers „6-Punkte-Modell“ sowie „Nächte zählen“ zur Erfassung der Betreuungsanteile der Eltern.
Als nicht eindeutig definiert erscheinen die angekündigten Änderungen im Bereich „Betreuungsunterhalt“.
Kritik am Entwurf des BMJ (Eckpunktepapier u. „6-Schritte-Modell“)
Der vorliegende Entwurf orientiert sich nicht an den Anforderungen an ein zeitgemäßes Familienrecht, sondern an der vom Ministerium in Gesprächen mit Verbänden, Anwälten und Richtern ermittelten „Durchsetzbarkeit“. Ein Problembewusstsein für die Belange mitbetreuender Eltern ist nicht erkennbar. Die von Justizminister Dr. Buschmann angekündigte offene Diskussion findet nicht statt und die von ihm benannten Ziele werden nicht erreicht.
Zudem ignoriert das Ministerium die vorgebrachte Kritik. Folgende Punkte haben die unterzeichnenden Verbände identifiziert:
- Die Verbände haben wahrgenommen, dass sich das BMJ aktuell nicht in der Lage sieht, die Betreuungsleistung von Eltern als gleichwertig zu betrachten und die anteiligen Bedarfe der Kinder in beiden Haushalten von Trennungsfamilien gleich-berechtigt zu würdigen.
- Weiter haben die Verbände mit Bedauern aufgenommen, dass das BMJ sich aktuell nicht in der Lage sieht, die im Sozialrecht bestehende Philosophie nach Gleichbehandlung der beiden Haushalte in das (private) Unterhaltsrecht zu über-nehmen. Im Sozialrecht werden die anteiligen Bedarfe konsequent aus Kindersicht wahrgenommen.
- Beunruhigend empfinden die Vertreter der Verbände die Formulierungen aus dem BMJ, eine linear-proportionale Aufteilung von Unterhaltsleistungen auf beide Haushalte im Verhältnis der Betreuungsleistungen würde sich streitverschärfend auswirken. Das Gegenteil ist der Fall: An den Grenzen (Stufen) erhöht sich erwiesenermaßen das Konfliktpotential. Die Eltern werden so strukturell in Auseinandersetzungen getrieben. Lineare Modelle hingegen verhindern Strittigkeit, da der Streitwert hier nur gering ist und sich durch Bagatellregelungen weiter reduzieren lässt.
- Anlass zur Sorge bereiten weiter die einzelnen „Schritte“ im 6-Schritte-Modell aus dem Eckpunktepapier: Die Rechenschritte erscheinen teils als willkürlich, teils als nicht logisch, teilweise als Eltern an der Meldeadresse bevorteilend bzw. Eltern in den zweiten Haushalten benachteiligend bis diskriminierend. Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit der Rechenschritte drängen sich auf.
- Insbesondere die angedachte Addition von Nettoeinkommen beider Eltern bei der Ermittlung des „Bedarfes“ der Kinder ist nicht zielführend. Weshalb sollen die Nettoeinkommen von zwei Eltern addiert werden, wenn doch nur ein Elternteil unterhaltspflichtig bleiben soll?
An der Stufengrenze von 29% zu 30% Betreuung wird das augenscheinlich: Im ersten Fall erhält das Kind laut Beispielrechnung BMJ einen „Bedarf“ (laut Düsseldorfer Tabelle 2024) in Höhe von 706 € (Stufe 6) willkürlich zugewiesen, im anderen Fall von 926 € (Stufe 11). Ist dies jetzt ein anderes Kind? - Das Ministerium verzichtet darauf, die „Nettoeinkommen“ der getrennten Eltern zu definieren. Sind das „behauptete“ Einkommen, „fiktive“ Einkommen, Einkommen aus Vollzeit- oder Teilzeiterwerbstätigkeiten? Oder Einkommen aus „erhöhter Erwerbsobliegenheit“? Die Vorgabe ist so nicht eindeutig umsetzbar.
- Grundsätzlich gilt: Die Düsseldorfer Tabelle (DDT) war konzipiert für gesell-schaftliche Erwartungen aus den 50er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals war es üblich, dass das Kind von der Mutter (nahezu allein) betreut wurde, der Vater war (nahezu allein) für den Kindesbarunterhalt zuständig. Heute wird Care-Arbeit (auch in Trennungsfamilien) in vielen Fällen partnerschaftlich zwischen den Eltern aufgeteilt. Das heißt: beide betreuen, beide bezahlen. Dazu ist die demokratisch nicht legitimierte Düsseldorfer Tabelle als Grundlage ungeeignet.
- Auch die Selbstbeschränkung des BMJ auf ein bloßes „Nächte-Zählen“ bei der Ermittlung der Betreuungsanteile ist bedauerlich. Es verfälscht die Betreuungs-anteile. Heute ist es sehr leicht, die Betreuungsleistungen korrekt und ganzheitlich zu erfassen. Die Grundlage dazu liefert die „Betreuungsvereinbarung“ der Eltern. Darin regeln sie (bereits jetzt) die Zuständigkeiten in Schul- sowie in Ferienzeiten.
- Im BMJ scheint es ein Tabu zu sein, den Betreuungsunterhalt im Verhältnis zu den Betreuungsleistungen auf beide Haushalte aufzuteilen. Auch wenn das Kind klein ist (sogar bei Neugeborenen), kann der zweite Elternteil die Betreuung zu 40 % (Beispiel) übernehmen. Da erscheint es nur als angemessen, den Betreuungs-unterhalt proportional auf beide Haushalte aufzuteilen.
- Als grundgesetzwidrig sehen die Verbände die weiterhin bestehende juristische Fiktion an, Bedarfe der Kinder entstünden nur an der Meldeadresse und Mitbetreuung ließe sich als zu 15% pauschalierte „Bedarfsreduktion“ oder „Unterhaltsersparnis“ betrachten. Bedarfe entstehen dort, wo sich das Kind aufhält und Kinder haben in beiden Haushalten ein Grundrecht auf die Berücksichtigung ihres Existenzminimums.
- Mit Bestürzung haben die Verbände festgestellt, dass im bestehenden System offenbar keinerlei Abschätzungen durchgeführt werden, für welchen Anteil Betroffenen die aufgerufenen Sätze und Beträge überhaupt noch leistbar sind. Plausibilitätsrechnungen und Abgleiche mit der statistischen Einkommens-verteilung finden dem Vernehmen nach nicht statt, obwohl sie leicht durchführbar wären. Hier besteht die Gefahr, dass das Unterhaltsrecht (auch mit den vorgestellten Anpassungen) ein Recht bleibt, das die Realität nur noch für eine Minderheit der Trennungseltern abbildet und somit zu einer Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung führt.
- Die Steigerung der Unterhaltssätze hat sich seit Jahren in weiten Teilen von der Reallohnentwicklung entkoppelt. Für Unterhaltspflichtige nimmt zunehmend der Erwerbsanreiz ab, da für immer mehr Betroffene selbst in Vollzeittätigkeiten nur noch der Selbstbehalt verbleibt. Das Unterhaltsrecht drängt so immer mehr Menschen in den Bezug von Bürgergeld bzw. ihnen droht die dauerhafte Verschuldung durch unrealistische Unterhaltsforderungen. Umgekehrt erhält der Kindesunterhalt für den zeitlich mehr betreuenden Elternteil zunehmend den Charakter eines Zweiteinkommens für den Elternteil im Meldehaushalt, so dass auch hier der Erwerbsanreiz sinkt. Für beide Eltern macht Erwerbsarbeit verhaltensökonomisch immer weniger Sinn – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Politische Dimension und Bewertung
Die Verbände melden große Bedenken an bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des Konzepts aus dem Bundesjustizministerium. Auffallend sind dabei die großen Ähnlichkeiten mit Forderungen aus dem Umfeld von „Alleinerziehenden“-Lobbyverbänden mit ihrem einseitigen Blick auf nur einen Haushalt in Trennungsfamilien: Dem Haushalt, in dem die Kinder gemeldet sind.
Das hat zur Folge, dass große Teile der Zivilgesellschaft sich mit dem Entwurf aus dem BMJ weder identifizieren können noch sich und ihre Bedürfnisse gesehen fühlen.
Zum aktuellen Stand verständigten sich die Verbände auf folgende Bewertung:
„Es ist besser, aktuell keine Reform umzusetzen als dieses Reformkonzept.“
Die Verbände fordern den Bundesjustizminister auf, am Konzept grundsätzliche Korrekturen vorzunehmen.
Zeitgemäße Lösungen
Eine zeitgemäße Lösung ist möglich – sofern der politische Wille vorhanden ist. Sie berücksichtigt folgende Punkte:
- Abschaffung der Hierarchisierung der Eltern in Betreuungs- und Umgangs-elternteile. Beide Eltern betreuen – meist zu unterschiedlichen Anteilen. Die bisherige Aufteilung in Residenz- und Wechselmodelle (mit einer Stufe bei 50 % Betreuung) ist damit obsolet; als Folge verringern sich der Streitanreiz.
- Gleichgewichtete und zeitanteilige Ermittlung der realen Bedarfe des Kindes in beiden Haushalten. Dazu müssen die Betreuungsleistungen beider Eltern gleichberechtigt berücksichtigt werden. Das Sozialrecht bietet hierzu bereits heute gemäß der Regelung zur „temporären Bedarfsgemeinschaft“ ein etabliertes und grundgesetzkonformes Vorgehen.
- Lineare Aufteilung des Barunterhalts auf beide Haushalte im Verhältnis der Betreuungsanteile – ohne Stufen.
- Harmonisierung von Unterhalts- und Sozialrecht bei der Bedarfsfeststellung. Grundlage für die Ermittlung der Bedarfe in beiden Haushalten sind die bestehenden Strukturen aus dem Sozialrecht: Grundbedarf, Mehr- und Sonderbedarfe der Kinder plus jeweilige Kosten der Unterkunft.
Die für lediglich einen unterhaltspflichtigen Elternteil konzipierte „Düsseldorfer Tabelle“ ist bei gemeinsamer Betreuung nicht sachgerecht und hat darüber hinaus keinerlei Rechtsgrundlage. Sie muss durch vorstehend aufgeführte Rechnung (anteilige Bedarfe plus jeweilige Kosten der Unterkunft) ersetzt werden. - Eine Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum der Kinder in beiden Haushalten garantiert. Ist der Mindestbedarf des Kindes höher als der für die Eltern leistbare Unterhalt, so muss eine sachgerechte Kindergrundsicherung diese Lücke schließen und das Existenzminimum des Kindes in beiden Haushalten anteilig sichern.
- Differenzierte Erwerbsobliegenheit: Gesellschaftlich und politisch gewünscht ist „faires Teilen von Sorgearbeit“. Daraus folgt, beide betreuenden Eltern sind berechtigt, ihre Erwerbsarbeit zugunsten der Betreuung der Kinder zu reduzieren. Die Reduktion wird größer ausfallen, je kleiner (jünger) die Kinder sind. Nähern sich die Kinder altersmäßig der Volljährigkeit, so wird die erwartete Erwerbsobliegenheit gegen 100% Vollzeit-Erwerbstätigkeit gehen.
- Bestimmung der Betreuungsanteile im Jahresmittel über eine gesetzlich verankerte Betreuungsvereinbarung, in der die Eltern die Eckdaten der Betreuung eigenverantwortlich vereinbaren (Zeiten, Übergaben, Ferien- und Feiertagsregelung, Betreuungsanteil). Ausschlaggebend muss hier die Betreuungsverantwortung tagsüber sein, da diese die Erwerbstätigkeit einschränkt. Rechtliche Verankerung des Instituts der Betreuungsvereinbarung im Gesetz.
- Dispositive Regelung der Betreuungsaufteilung im Gesetz für die Zeit zwischen Trennung und Abschluss der Betreuungsvereinbarung (oder ersatzweise gerichtlichem Beschluss). Diese vorläufige Regelung muss aufgrund von Art. 3 GG und Art. 6 (2) GG eine hälftige Aufteilung zwischen den Eltern vorsehen, sofern diese nicht unter objektiven Gesichtspunkten dem Wohl des Kindes widerspricht.
- Ganzheitlicher Blick auf die Kinder und die Ressourcen in beiden Haushalten: Alle kindbezogenen Leistungen müssen im Verhältnis zu den Betreuungsleistungen auf beide Haushalte aufgeteilt und ausgezahlt werden:
• Kindesbarunterhalt
• Betreuungsunterhalt für betreuende Eltern
• Steuerliche Freibeträge
• Kindergeld
• Kindergrundsicherung
Für Rückfragen und konstruktive Gespräche stehen die Verbände zur Verfügung.
Elmar Riedel
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Dr. Charlotte Michel-Biege
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Gerd Riedmeier
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Stefan Dringenberg
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Annemie Wittgen
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André Rossnagel
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